Buchbesprechung

Gary Bruno Schmid,Selbstheilung durch Vorstellungskraft, Springerverlag 2010, ISBN 978-3-7091-0157-5

Gary Schmid, Bachelor of Science in Mathematik mit Post Doc-Promotion als Atomphysiker, wurde 1980 als Analytischer Psychologe am C.G. Jung-Institut in Zürich diplomiert. Der Titel des vorletzten 2000 erschienenen Buches lautete bekanntlich „Tod durch Vorstellungskraft“. Das vorliegende Buch trägt nun den wesentlich erfreulicheren Titel „Selbstheilung durch Vorstellungskraft“. In diesen 348 Seiten umfassenden Buch stellt Schmid seine hypnotherapeutische Arbeit insbesondere mit Krebs- und SchmerzpatientInnen dar.

Die SechsDramaturgischen Elemente

Die Quintessenz ist die Erarbeitung eines auf Evidenz basierenden „Mythos“ aus sechs ineinander greifenden dynamischer Bilder mit dem Ziel, innerseelische Vorgänge zur Verstärkung der Selbstheilungskräfte zu aktivieren und zu fördern (siehe Schema des Referenten). Zentral geht es um die Stärkung der Immunabwehr sowie natürlich auch um die günstige Modulation von Beschwerden. Die vom Autor die „SechsDramaturgischen Elemente“ (SED) genannte Methode beinhaltet folgende, jeweils in Trance erarbeitete Faktoren: Erstens die Erfahrung in Visualisation von Ruhe / Entspannung, zweitens ein individuelles Wirkbild für Gesundheit, Kompetenz und Leistungsfähigkeit.

Abbildung 1

Drittens geht es um die Entmystifizierung der somatischen Krankheit resp. Schmerzen. Statt von der Krankheit zu dissoziieren, gilt es genau hinzuschauen, um ein realistisches Bild der Krankheit erarbeiten zu können – da fängt sie an, dort hört sie auf, z.B. im Röntgenbild die Metastasen –, damit die Krankheit nicht als übermächtig grosses Gespenst, sondern ein auf Augenhöhe beobachtbares Phänomen erfahrbar wird. Es geht bei dieser Schritt um die Entwicklung eines Anti-Ohnmachtsgefühls, um die Befreien aus der tödlichen „Käfigsituation“, deren Formel nach Schmid ist: Käfigsituation = Ausweglosigkeit  x Hilflosigkeit x Hoffnungslosigkeit x emotionelle Isolation x Resignation. Das Gegenteil der Käfigsituation ist die Positivierung, also Motivation x Möglichkeit x Training x emotionale Unterstützung x Hoffnung x Mut. Dies ermöglicht die Überwindung des Nocebo-Effektes. Der vierte Schritt erarbeitet eine positive Beziehung zur Schulmedizin, also zu „Chemie, Strahl und Stahl“, um den Placebo-Effekt voll nützen zu können: „Die medikamentöse Behandlung ist gut für mich, heilsam und effektiv.“

Das fünfte Wirkbild steht für den festen Glauben an die Selbstheilung; der „Locus of control“ ist in mir! Es geht darum, die eigenen Immunkräfte als kompetent und siegreich gegenüber Krankheiten sinnlich zu erleben, also nicht nur einfach eine Vorstellung davon zu haben. Das sechste und letzte Bild beinhaltet zuerst die Vernichtung und die virtuelle Reinigung des Organismus von der Krankheit: „Meinen Körper erlebe ich als imstande, alle Rückstände von Krankheit oder Schmerz ausleiten und wieder gesund zu sein wie zuvor.“ Bemerkenswert und hoch effizient ist offenbar, was Schmid als zweiten Schritt unter Punkt sechs als den „Körperanker“ bezeichnet. Es geht um die nicht so einfache Aufgabe, einen eigentlichen Felt sense – ein „feeling of healing“ respektive health– für diesen Selbstheilungsmythos zu entwickeln, welcher von der Gesamtheit der sechs Wirkbildern ausgeht; es ist der letzte Schliff am SDE-Diamanten. Dieses körperliche Gefühl des vorweggenommenen Heilungsprozess – sinnlich hat eindeutig etwas mit Sinn zu tun –, sei dies nun ein Wärmegefühl an einem speziellen Ort, eventuell ein Kribbeln am ganzen Körper, kann und soll immer wieder abgerufen werden. Dadurch wird das ganze neuronale Muster der Selbstheilung gebahnt, die entsprechenden positiven Gedanken, die positiven Gefühle und die optimistische Körperhaltung beinhaltend. Der Selbstheilungsmythos wird im Laufe des Monate- bis jahrelangen Krankheitsverlaufs dem Auf und Ab des Krankheitsverlaufs angepasst. Schmid öffnet hierzu detaillierte Krankengeschichten, in welchen der hypnotherapeutische Arbeitsprozess transparent nachvollziehbar wird.

Medizinische Evidenz und WwW-Prinzip

Ein wesentlicher Teil des Buches beinhaltet die Darstellung der medizinischen Evidenz, das wissenschaftliche Fundament der sechs Wirkprinzipien. Allein schon diese Kapitel sind spannend und lehrreich. Nach einer generellen Einführung zur psychogenen Heilung folgt das Kapitel „Vorstellungskraft: Psychoneuroimmunologische Zusammenhänge“. Information jeglicher Art ist hoch wirksam, sei dies im hemmenden oder fördernden Sinne. Wissen – so Schmid – ist ein biopsychosoziales Phänomen, das eng mit unserem Denk-, Fühl-, Sinnes- und Intuitions-Prozesses verflochten ist. Diese Evidenz-basierten Überlegungen führen zur Hypothese, dass eine positive Einstellung des gut informierten Patienten für die wirksame Aktivierung der Immunabwehr zentral ist. Schmid’s Slogan ist „Wissen wirbt für Wirksamkeit“, oder eben das WwW-Prinzip. Wir erhalten in diesem Kapitel einen Überblick über das aktuelle Wissen im Hinblick auf die neuronale Plastizität und auch die Zusammenhänge zwischen Vorstellungskraft und Immunsystem resp. Stress werden dargestellt. Wussten Sie zum Beispiel, liebe Leserin, lieber Leser, dass bereits ein mittelprächtiger Ehestreit die lokale und die systemische entzündungsfördernde Zytokin-Produktion erhöht und die Wundheilung mindestens um einen Tag verzögert? Nach dem Kapitel „Vorstellungskraft und Immunabwehr“, folgt das Hauptkapitel mit der Überschrift „Bewusstseinsmedizin: Selbstheilung durch Vorstellungskraft“. Ein Unterkapitel widmet sich hier der „Mind-Body-Schnittstelle“, also der Rückkopplung zwischen Geist und Materie. Dort begegnet uns z.B. der Achtsamkeit als Geisteszustand, in dem Utilisation von innerer und äusserer Information wesentlich besser gelingt. Sehr viel Raum erhält der Placebo-Effekt, untermauert mit verschiedenen Studienresultaten. Es ist anzunehmen, dass dieser Effekt lediglich die Spitze eines kaum genützten „Heilberges“ darstellt.

So konnten man Ende Dezember 2010 in verschiedenen Zeitungen (z.B. NZZ vom 29.12.2010, Seite 55) lesen, dass in einer Placebo-Studie bei Patienten mit Reizdarm-Syndrom 60% in der Placebo-Gruppe und nur 35% in der Kontroll-Gruppe über eine Verbesserung berichteten. Das bemerkenswerte ist, dass der Unterschied zwischen den beiden Gruppen lediglich der war, dass die Placebo-Gruppe darüber informiert wurde, dass sie Placebo einnehme, die anderen nicht. Dies bedeutet, dass diese PatientInnen bereits nicht mehr nur an den Placebo-Effekt glaubten, sondern eben bereits an ihre Selbstheilungskräfte!

Darum nimmt das Thema Glauben in diesem Buch auch eine wichtige Stelle ein. Der wirksamste Glauben ist derjenige – so Schmid –, der gar nicht als solcher erkannt wird. Sonst würde der negative Effekt – erkennbar am Voodoo-Tod – keine Wirkung entfalten können. Zitat: „Ein Placebo wird erst dann zum Heilmittel, ein Nocebo zum todbringenden Seelengift, wenn wir meinen zu wissen und nicht nur zu glauben, dass es wirkt. Und die anderen um uns herum wissen es eben auch!“

Bewusstseinsmedizin

Die bewusste und unbewusste Verarbeitung von Information im lebenden Organismus kann heilen, krank machen und gar töten. Dies kann als Leitsatz der „Bewusstseinsmedizin“ (BM) gelten, eine Wortschöpfung von Schmid mit der Absicht, einen Paradigmenwechsel in der klassischen Psychoneuroimmunologie einzuleiten. Zitat: „Während die Psychoneuroimmunologie die neurobiologische Basis des Bewusstseins und des Unbewussten betont, fokussiert die Bewusstseinsmedizin auf die bewusste und unbewusste psychologische Fundierung der Neurobiologie. Die BM zielt darauf ab, eine Brücke zu schlagen zwischen bewussten, psychischen Denk- und Vorstellungsprozessen, die wir zum Teil willentlich steuern können, und unbewussten körperlichen Immun-/Schmerzabwehr- und Heilungsprozessen (ISH), die mehr oder weniger autonom unsere körperliches Funktionieren und Befunden regulieren. Wichtig ist dabei der wechselseitige Informationsaustausch zwischen unbewussten ISH-Prozessen im weitesten Sinne und positivierenden Vorstellungbildern in Form aktiver Imaginationen.“

Das Werkzeug der Bewusstseinsmedizin ist die medizinische Hypnose, welche u.a. als Informationsverstärker wirkt. Sie stellt „eine Art Brücke dar zwischen den statistisch belegten Heilungsmöglichkeiten im Rahmen eines Kollektivs und der Realisierung dieser Möglichkeiten im Einzelfall mittels Vorstellungskraft des Individuums“. Das Immunsystem wird umso funktionstüchtiger, je entspannter, hoffnungsvoller, realistischer, williger, sich selbst bewusster und von sich überzeugter ein Mensch ist. Umgekehrt bedeutet Stress, Resignation, Widerstand gegen die verordnete Behandlung, Unsicherheit und Zweifel eine Schwächung der Abwehrkräfte. Dies ist die Basis der SDE-Methode zur Selbstheilung.

Nicht nur für PatientInnen

Wenn wir uns bewusst sind, dass der menschliche Geist seine Realität selber generiert, so öffnet dieses Buch die mentalen Türen weit für ein selbstkompetentes und sinnvolles Leben. Durch das Bewusstwerden unserer Geistesinhalte respektive Glaubensvorstellungen, entsteht die Wahlmöglichkeit, sie zu hinterfragen, sie über Bord zu werfen oder zum mindesten in der Schwebe zu halten. Das sind Argumente für einen freien Willen! Wieso nicht wieder einmal in Selbsthypnose die Frage in sich einsinken lassen, auf wie viel Evidenz sich das eigene Selbstbild gründet, statt mit eingeschaltetem Autopiloten (Jon Kabat-Zinn) dem Burnout entgegen zu sinken? Oder überhaupt wieder einmal ein Zwiegespräch mit dem ureigenen, doch eher unbekannten „Gesundheitswesen“ suchen; warum nicht einfach jetzt und damit rechtzeitig einen eigenen Gesundheitsmythos entwickeln? Evidenz-basierte Medizin stützt sich übrigens nicht etwa nur auf Literatur, sondern genau so auf die eigene Evidenz im therapeutischen Alltag und im eigenen Leben. Das bedeutet, dass wir für unsere PatienInnen eine hohe Glaubwürdigkeit ausstrahlen, wenn wir bereits selber können, was wir von ihnen verlangen. Das Buch ist eine zündende, Evidenz-basierte Anstiftung zu Freiheit und Selbstwirksamkeit resp. die Eintrittskarte zum „4-H-Club“ nach Steven Gilligan, also happiness, health, helpfulness and healing.

Ich habe übrigens realisiert, dass das Buch sich gut eignet, von PatientInnen selber gelesen zu werden. Es kann sich dadurch – z.B. bei ängstlichen und misstrauischen Menschen jenseits jeglicher körperlichen Erkrankung – ein kreativer Dialog gerade zum Thema Glauben und Wissen entspannen. Lesen Sie es aber zuerst selber! Ich wünsche dem Buch, von möglichst vielen Menschen gelesen zu werden; es ist ein auch für Nichtmedizinischer gut lesbares Meisterwerk, in dem eine enorme Arbeit steckt. Vielen Dank dafür Gary!

Heini Frick, CH-HYPNOSE, VOL. XXII, NO 1/2012